Gegenreformation und Reform im Reich: Erneuerung des Alten

Gegenreformation und Reform im Reich: Erneuerung des Alten
Gegenreformation und Reform im Reich: Erneuerung des Alten
 
»Konfessionelles Zeitalter«
 
Die abendländische Christenheit war in mehrere Kirchengemeinschaften auseinander gefallen, das stand um die Mitte des 16. Jahrhunderts fest; in Gemeinschaften, die sich daran machten, ihre unterschiedlichen Bekenntnisse zu formulieren, dogmatisch festzuzurren, die sich nach innen verfestigten, nach außen polemisch abgrenzten. Man unterstrich oft genug mehr das Trennende als das Gemeinsame, pflegte sorgsam seine Unterscheidungsmerkmale — seit der Gregorianischen Kalenderreform (1582) datierten Katholiken sogar anders als evangelische Christen, und dass die Lutheraner Prozessionen und Wallfahrten ablehnten, machte diese der katholischen Welt nur noch unentbehrlicher, jede einzelne davon war eine pompöse Demonstration eigener Stärke. Oft hatte die Konfession die nationale oder territoriale Identität zu stützen, sie wurde im jeweiligen Verbreitungsgebiet durch die Obrigkeit mittels systematisch betriebener Personalpolitik, Propaganda und Zensur durchgesetzt. Auch die Bildung erhielt dadurch einen neuen Stellenwert; sie sollte dafür sorgen, dass die Normen der jeweiligen Konfession von den Heranwachsenden verinnerlicht wurden — die Jesuitenkollegien haben hier ihren hochpolitischen Ort.
 
 Neue katholische Stoßkraft
 
Wichtige Voraussetzungen für eine Revitalisierung des deutschen Katholizismus wurden anderswo geschaffen: in Spanien, der Heimat des Gründers des Jesuitenordens, Ignatius von Loyola, in Rom, wo sich ein neuer »Papsttyp« etablierte — die Erneuerung der alten Kirche hatte fortan nicht mehr mit theologisch unbedarften Renaissancefürsten im Papstkleid zu kämpfen. Und in Trient, auf einem Konzil, von dem zwei Botschaften ausgingen: begrenzte Reformbereitschaft — insbesondere die Seelsorge wollte man sanieren (Einrichtung von Priesterseminaren!) — und fast unbegrenzte Kampfbereitschaft. Diese Reformen zielten nicht auf Öffnung, die auf Erleichterung einer friedlichen Wiederannäherung der Konfessionen; die alte Kirche sollte neue Stoßkraft gewinnen, durch bessere Disziplin auf allen Ebenen, durch Vereinheitlichung, Zentralisierung. Man formierte sich zum Gegenschlag.
 
Wie war es um den deutschen Katholizismus nach der Jahrhundertmitte bestellt? Kurz gesagt: sehr schlecht! Der venezianische Gesandte Federigo Badoaro behauptete 1557, im Reich seien sieben Zehntel der Bevölkerung lutherisch und nur noch eines katholisch. Immer mehr Obrigkeiten traten zur neuen Lehre über, immer mehr Untertanen altgläubig gebliebener Landesherren wandten sich von der katholischen Lehre ab. Noch um 1600 konnte kaum irgendwo im Reich davon die Rede sein, dass auch nur die Grundelemente der katholischen Reform realisiert worden wären. Eine der wenigen Ausnahmen war das Hochstift Würzburg. Energisch verhalf der dortige Fürstbischof, Julius Echter von Mespelbrunn, dem nach den Trienter Vorgaben reformierten Katholizismus in seinem Territorium zur alleinigen Geltung. Evangelisch gesinnte Geistliche wurden vertrieben, das sinnenfrohe Schauspiel prächtiger Prozessionen, pompöser Messen, von Heiligenfesten und Ablässen sollte den Untertanen imponieren, aber auch das soziale Engagement ihres Landesherrn (»Juliusspital«). Wer sich nicht beeindrucken und auch nicht einschüchtern ließ, wurde aus dem Land gejagt.
 
 Evangelische Divergenzen
 
Schloss man in der katholischen Welt die Reihen, um hie und da bereits zum Gegenangriff überzugehen, war die evangelische Bewegung durch theologische und politische Differenzen gespalten; Martin Luther war 1546 gestorben, es gab seitdem keine unumstrittene Führungsfigur mehr. Die Streitpunkte waren mannigfaltig, die zunehmende dogmatische Fixierung des Glaubens auch auf evangelischer Seite produzierte immer neue, heute kleinlich anmutende, aber mit Eifer ausgefochtene publizistische Kleinkriege. Wenn Luther betonte, dass der Glaube ausschlaggebend sei fürs Heil des Menschen, dass sich Gottes Gnade nicht »verdienen« lasse — hieß das dann, dass die »guten Werke« trotzdem nützlich waren und ihren Platz in der Heilsordnung besaßen? Oder waren jene gar schädlich, weil sie von der vollen Konzentration auf den Glauben ablenkten? Nicht alle Streitpunkte lassen sich so einfach skizzieren; jedenfalls war die lutherische Bewegung immer wieder vom Auseinanderfallen bedroht. Sodann erfasste der Calvinismus Teile des Reiches — früh schon die Kurpfalz, dann, seit der Mitte der Siebzigerjahre, in rascher Folge weitere Territorien: die der Wetterauer Grafen zum Beispiel, Zweibrücken, Anhalt, Hessen-Kassel.
 
Auch ganz unterschiedliche politische Lageeinschätzungen und Empfehlungen zerklüfteten die evangelische Bewegung. Protagonisten der einen Richtung waren die Kurpfälzer. Für sie war gute Reichspolitik Europapolitik. Der deutsche Protestantismus stand in Heidelberger Sicht einem europaweit organisierten, von Rom und Madrid aus gelenkten, fast monolithischen Block von Feinden gegenüber. Zur Eindämmung der allgegenwärtigen katholischen Aggression hieß es ein Netz von Allianzen über den ganzen Kontinent zu knüpfen. Überall suchte man nach Ansatzpunkten dafür, nach etwaigen Verbündeten, Waffenbrüdern. Der große europäische Glaubenskrieg war ja doch unvermeidlich, man musste sich dafür rüsten.
 
Viele andere protestantische Höfe glaubten an die Chance einer reichsinternen und friedlichen Konfliktlösung. Man durfte die Katholiken eben nicht reizen, erst recht nicht das Ausland zur Einmischung in die deutschen Angelegenheiten einladen. Die Spielregeln des Reichsverbandes würden es mit der Zeit schon richten, vor allem aber war der Kaiser gefragt, als derjenige, der die verschiedenen Interessen ausbalancierte. Anstatt seine Autorität zu untergraben, galt es ihn zu stärken. Dass sich Rudolf II. tatsächlich nicht als Schiedsrichter über den Fronten verstand, sondern als Parteiführer der katholischen Seite, wollte man nicht sehen, am wenigsten in Dresden, wo man eine Politik betrieb, die »reichstreu« sein wollte, dies mit prokaiserlich gleichsetzte — und im Endeffekt prokatholisch war. Im Böhmisch-Pfälzischen Krieg seit 1618 würde Kursachsen an der Seite des Kaisers gegen die protestantische Union kämpfen.
 
 Zeit des Ausgleichs
 
Wie war nun das Verhältnis zwischen den beiden konfessionellen Lagern nach dem Religionsfrieden von 1555? Zunächst recht entspannt. Eine Generation lang konnte man den Eindruck gewinnen, als wirke der »Religionsfriede« tatsächlich befriedend. Kampfmüde, aus Schaden klug geworden, suchte die Generation derer, die den Schmalkaldischen, den Fürstenkrieg miterlebt hatte, ein Auskommen auf der Basis des Status quo. Das taten auch die beiden Kaiser, die auf Karl V. folgten. Das große Ziel Ferdinands I. (1558—64) war und blieb die Wiedervereinigung der Konfessionen. Von ihm angeregte Religionsgespräche brachten freilich den ersehnten Durchbruch nicht. Im Übrigen war Ferdinand ein friedliebender alter Herr, der mit den meisten protestantischen Fürsten ausgesprochen gut auskam.
 
Von Maximilian II. (1564—76) lässt sich nicht einmal mit Bestimmtheit ausschließen, dass er sich innerlich als Protestant fühlte. Es gibt Indizien für protestantische Anschauungen, die Maximilian freilich tief in seinem Herzen vergrub. Nach außen hin hatte ein habsburgischer Kaiser gut katholisch zu sein, Maximilian fügte sich den Erwartungen und Notwendigkeiten, dem »Sachzwang«. Er gab sogar, um seine Katholizität zu demonstrieren, den ältesten Sohn, Rudolf, zur Erziehung an den Madrider Hof Philipps II. Rudolf II., der Nachfolger im Kaiseramt (1576—1612), wurde so im Geiste des spanischen Katholizismus erzogen, er konnte und wollte die konfessionelle Polarisierung des Reichsverbandes nicht aufhalten.
 
 Der Religionsfriede wird zum Zankapfel
 
Seit den späten Siebzigerjahren verschlechterte sich das Verhältnis zwischen den Konfessionen im Reich zusehends. Man begann sich vor allem um die rechte Interpretation des Augsburger Religionsfriedens zu streiten. Dieser war vielfach undeutlich und in sich widersprüchlich. Die Redakteure hatten, wie man damals sagte, »dissimuliert«, mit undeutlichen und doppeldeutigen Begriffen jongliert, um nur überhaupt einen kompromissfähigen Text zustande zu bekommen. Beide Seiten hatten sich damals nach einem tragfähigen Frieden gesehnt, ohne wirklich für alle Zeiten eine Veränderung des Status quo ausschließen zu wollen. So hatte man sich schließlich zusammengerauft, ohne im Letzten einig zu sein — wo es nicht anders ging, auf Kosten der Klarheit und Wahrheit. Eine Zeit lang schien es so, als würde sich dieses Spiel auszahlen, aber langfristig überwogen doch die Nachteile des damals gewählten Verfahrens. Wenn man nur suchte, entdeckte man genug unklare Stellen im Vertragstext, aus denen sich vielleicht Kapital schlagen ließ, mittels deren man die Gegenseite ärgern konnte.
 
Ungesichert war zum Beispiel die Stellung des Calvinismus im Reich. Der Religionsfriede akzeptierte nur Katholizismus und Augsburger Konfession. Der Calvinismus ließ sich letzterer eigentlich nicht subsumieren. Aber wenn die Nagelprobe anstand, zum Beispiel, weil die Katholiken am Reichstag das ausdrückliche Verbot des Calvinismus im Reich durchzusetzen versuchten, nahmen die Lutheraner die verhassten »Calviner« eben doch unter den dann sehr weit gefassten Schutzmantel einer angeblichen Zugehörigkeit zur Augsburger Konfession.
 
 Ausnahmen schaffen Probleme
 
Die anderen Streitpunkte betrafen allesamt unklar gefasste Ausnahmebestimmungen zu jenem Grundprinzip, wonach fortan die Obrigkeit bestimmte, was in ihrem Territorium zu glauben war. Mancher protestantische Landesherr hatte Klöster und andere fromme Einrichtungen der alten Kirche in seinem Territorium nicht einfach rücksichtslos beseitigt. Klöster zum Beispiel ließ man manchmal »aussterben«, die Mönche durften keine Novizen mehr annehmen, aber ihr Leben in gewohnter Weise zu Ende leben. Irgendwann würde der letzte gestorben sein, dann würde man das Kloster einem anderen, »nützlichen« Zweck zuführen. Rächte sich derlei Rücksichtnahme nun? Nach katholischer Lesart untersagte es der Augsburger Religionsfriede, fromme Einrichtungen, die zur Zeit des Passauer Vertrages noch katholisch gewesen waren, der alten Kirche zu entziehen. Diejenigen protestantischen Landesherren, die nicht rabiat genug reformiert hatten, würden also auf alle Zeiten katholische »Inseln« in ihrem Territorium hinnehmen müssen! Sie taten es tatsächlich nicht, aber es hat viel Hader und Zank deshalb gegeben.
 
Auch eine Sonderregelung des Religionsfriedens für die Reichsstädte hat notorischen Streit und chronische Erbitterung verschuldet. Die meisten Reichsstädte hatten sich ja früh dem Luthertum geöffnet, waren insofern seit Jahrzehnten evangelisch; aber die siegreichen kaiserlichen Truppen des Schmalkaldischen Kriegs, sodann das »Augsburger Interim« hatten dafür gesorgt, dass in verschiedenen Reichsstädten vor allem Süddeutschlands zuletzt wieder kleine katholische Minderheiten existierten. Zu ihren Gunsten legte der Religionsfriede fest, dass in allen Reichsstädten, in denen gerade Lutheraner und Katholiken lebten, beide Konfessionen weiterhin zuzulassen seien. Hier hatte die Obrigkeit, der Stadtrat, also nicht das Recht, den Glauben der Bürgerschaft zu bestimmen — eine Zwangskoexistenz! Was heute fortschrittlich anmuten mag, konnte unter den damaligen Umständen nicht funktionieren. Religion war nicht etwa »Privatsache«, war etwas höchst Politisches. Für die Lutheraner war es eine unerträgliche Provokation, wenn die katholische Minderheit mit fliegenden Fahnen Prozessionen in der Stadt veranstaltete. Welche Festtage sollten gelten? Dann datierte man ja auch bald nicht mehr einheitlich. Wenn der Stadtrat am 24. Dezember Weihnachtspause einlegte, zählte der katholische Kalender bereits den 3. Januar des folgenden Jahres! Eine vermeintliche oder tatsächlich so gemeinte Provokation jagte die andere. Weil die immer triumphaler inszenierten Prozessionszüge des angrenzenden Benediktinerklosters zum Heiligen Kreuz durchs Donauwörther Stadtgebiet von den überwiegend protestantischen Reichsstädtern gestört wurden, verhängte Kaiser Rudolf II. 1607 die Acht über Donauwörth, bayerische Truppen marschierten ein, um sie zu vollziehen und die Reichsstadt zur — natürlich katholischen — bayerischen Landstadt zu »degradieren«. Hatten reichsstädtische Magistrate womöglich überhaupt nicht und nirgends das Recht, den Glauben der Bürgerschaft festzulegen, weil das dem Reichsoberhaupt, dem Kaiser, zustand? Die Katholiken behaupteten es alsbald. Pech für die Reichsstadt Aachen! Immer wieder sickerten niederländische Glaubensflüchtlinge, Calvinisten oft, in die Stadt ein, sie gingen dort ihrem Glauben nach, wurden in den Stadtrat gewählt. Mehrmals reagierten die katholischen Nachbarn darauf mit Truppeneinmärschen, stellten sie die Alleinherrschaft des Katholizismus in der Reichsstadt gewaltsam und blutig wieder her.
 
Auch für die geistlichen Fürstentümer galten strittige Ausnahmebestimmungen. An sich hätte der Fürstbischof, als Obrigkeit, ja die freie Wahl haben müssen, ob er bei der alten Kirche blieb oder aber zur Augsburger Konfession überwechselte, und alle Untertanen hätten sich nach ihm richten müssen. Eine Sonderregel, der »Geistliche Vorbehalt«, besagte aber etwas anderes: Wechselte der Fürstbischof zum evangelischen Glauben über, verlor er Amt und Würden; das Domkapitel konnte einen katholischen Nachfolger wählen. Die protestantische Minderheit hatte dieser Ausnahmebestimmung schon auf dem Reichstag von 1555 nicht zugestimmt, behauptete deshalb seitdem, jene Klausel ginge sie gar nichts an. Später zeigte sich noch ein weiteres Schlupfloch: Viele geistliche Fürstentümer Norddeutschlands gingen der alten Kirche nicht deshalb verloren, weil da etwa der Fürstbischof Protestant geworden wäre. Nach und nach protestantisch gewordene Domkapitel wählten, wenn wieder einmal eine Bischofswahl anstand, einfach einen Lutheraner an die Spitze des Territoriums. Dieses wurde also fortan von einem protestantischen »Bistumsadministrator« regiert. Die katholische Seite hielt jene Wahlpraxis für unzulässig, die Protestanten verwiesen darauf, dass sie nach dem Wortlaut des Religionsfriedens nicht verboten sei — der sprach ja schließlich nur vom Konfessionswechsel eines zunächst katholischen Fürstbischofs! Blieben also nicht einmal die geistlichen Territorien bei der alten Kirche? Gelang es dem protestantischen Hochadel, seine Söhne in die Domkapitel einzuschleusen, gar auf Bischofsstühle zu befördern? Grob gesagt, er hat es in Norddeutschland in der Regel geschafft, südlich des Mains nicht. Es gab erbitterte Auseinandersetzungen, und es floss sogar Blut: beim Kampf um Straßburg, dem um Köln (»Kölnischer Krieg«).
 
Um den Protestanten den »Geistlichen Vorbehalt« etwas erträglicher zu machen, hatte man sich 1555 eine weitere Ausnahmebestimmung ausgedacht. Musste der Fürstbischof schon katholisch bleiben, räumte man doch, quasi zum Ausgleich, denjenigen Adligen, Städten und Gemeinden in geistlichen Territorien, die schon längst protestantisch geworden waren, ein, ihren von der Konfession der Obrigkeit abweichenden Glauben zu behalten. Freilich, jene nachgeschobene Regelung (Declaratio Ferdinandea) war nicht Bestandteil des offiziellen Gesetzestextes, ihre Verbindlichkeit war zwischen Katholiken und Protestanten alsbald strittig. Julius Echter scherte sich bei der schon erwähnten Rekatholisierung seines Fürstbistums Würzburg keinen Deut um die Declaratio, jagte Andersgläubige einfach aus dem Land, ohne dass bedeutende lutherische Territorien, wie Kursachsen, dagegen eingeschritten wären. Das musste eventuelle katholische Nachahmer natürlich sehr ermuntern.
 
 Die Lähmung der Reichsorgane
 
Die wachsende konfessionelle Polarisierung hatte verhängnisvolle Auswirkungen auf die Reichspolitik. Nacheinander fielen die wichtigsten Reichsorgane aus, mangels Konsensfähigkeit. Den Reichshofrat, das weitgehend kaiserliche unter den beiden obersten Reichsgerichten, »politisierte« Rudolf bewusst; er zog alle brisanten Streitfragen vor dieses Forum, die Urteile fielen regelmäßig prokatholisch aus, wie zuletzt im Fall Donauwörth. Bald schimpften die Protestanten über die ihrer Ansicht nach unstatthaften »Hofprozesse«, sie wollten die Urteile nicht mehr akzeptieren. Das andere, ständische Reichsgericht, das Reichskammergericht, war gelähmt, weil sich die Konfessionen nicht mehr über die Zusammensetzung der »Visitationskommission« einigen konnten; jene sollte jährlich die Gerichtsakten überprüfen und war auch so etwas wie allerletzte Berufungsinstanz. Nach einem bestimmten Turnus waren jedes Mal einige andere Reichsstände an der Reihe, so 1588 unter anderem Magdeburg. Dort freilich regierte mittlerweile nicht mehr ein katholischer Erzbischof, sondern ein protestantischer »Bistumsadministrator«. Solche durfte es indes nach katholischer Lesart des Religionsfriedens gar nicht geben. Die Visitation konnte nicht durchgeführt werden, nicht jetzt, nicht in den folgenden Jahren. Immer mehr Kammergerichtsprozesse blieben unerledigt. Die Reichsjustiz lag darnieder. Auch die zehn Reichskreise funktionierten nicht mehr recht, anstelle der herkömmlichen Kreistage gab es fast nur noch protestantische oder katholische Teilkonvente.
 
Blieb immerhin noch der Reichstag! Auch hier waren Kompromisse immer schwerer zu erzielen. Einig war man sich selten, und das Mehrheitsprinzip, seit der »Protestation« von 1529 prekär, wurde immer weiter ausgehöhlt. Um 1600 setzten die Pfälzer und ihr Anhang den Grundsatz durch, man dürfe »anderen nicht in den säckel votieren«, jeder müsse nur die Reichssteuern bezahlen, die er auch selbst bewilligt habe — man wollte sich nicht von der katholischen Mehrheit durch exorbitante Steuerbewilligungen »ausmatten« lassen. Der Reichstag, die letzte Bühne des friedlichen Interessenausgleichs im Reich, war schwer angeschlagen. Wie sollten Konflikte fortan noch geschlichtet werden, wenn der Reichstag auch noch ausfiel? Im Jahr 1608 war es so weit, ist ein Reichstag vollständig gescheitert. Über den bayerischen Einmarsch in Donauwörth erregt, forderten die Protestanten eine förmliche Bestätigung des Religionsfriedens. Die Wittelsbacher und andere militant gesinnte Katholiken reagierten uneinsichtig, drohend, provozierend. Die Atmosphäre war bald vollständig vergiftet — in Berichten vom Reichstag wurde bereits vor einem nahe bevorstehenden, nun unvermeidlich gewordenen Krieg gesprochen. Die Pfälzer und ihr Anhang wollten sich die Auftritte der katholischen Mehrheit schließlich nicht mehr bieten lassen, sie reisten einfach ab, zögernd folgte ihnen das »reichstreu«-lutherische Lager mit den Dresdnern. Der Reichstag konnte kein einziges Gesetz verabschieden. Es ist kein Zufall, dass sich zahlreiche evangelische Reichsstände nur wenige Wochen nach der Sprengung des Reichstags zu einem Schutzbündnis, zur »Union«, zusammenschlossen. Ein Jahr später zogen die Katholiken mit der »Liga« nach. Beide Bündnisse behaupteten von sich, Hilfsorgane der beschädigten Reichsverfassung zu sein, Streben, die man ins morsche Gebälk des Reichsverbandes einziehe. Zehn Jahre später würden sie sich als Kriegsallianzen gegenüberstehen.
 
Dr. Axel Gotthard
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Dreißigjähriger Krieg: Um Religion und Macht
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Reformation und Reich bis zum Augsburger Religionsfrieden 1555: »Wenn du werest in deiner tauff ersoffen«
 
 
Gotthard, Axel: Konfession und Staatsräson. Die Außenpolitik Württembergs unter Herzog Johann Friedrich (1608-1628). Stuttgart 1992.
 Gotthard, Axel: Protestantische »Union« und katholische »Liga«, in: Alternativen zur Reichsverfassung in der frühen Neuzeit?, herausgegeben von Volker Press. Bearbeitet von Dieter Stievermann. München 1995.
 Lutz, Heinrich: Das Ringen um deutsche Einheit und kirchliche Erneuerung. Von Maximilian I. bis zum Westfälischen Frieden. 1490-1648. Frankfurt am Main u. a. 1987.
 Rabe, Horst: Deutsche Geschichte 1500-1600. Das Jahrhundert der Glaubensspaltung. München 1991.
 Rabe, Horst: Reich und Glaubensspaltung, Deutschland 1500-1600. München 1989.
 Schilling, Heinz: Aufbruch und Krise. Deutschland 1517-1648. Sonderausgabe Berlin 1994.
 Schulze, Winfried: Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert. 1500-1618.Frankfurt am Main 21996.

Universal-Lexikon. 2012.

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